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Helen Walsh
 
Skandal, Skandal? Millie, die Protagonistin von Helen Walshs gleichnamigem Roman, isst Drogen wie andere Leute Smarties und hat schmutzigen Sex mit billigen Huren.
(2006.03.20, 21:52)

"Sex-crazed, genderless freak"

Helen Walsh muss wohl der Text- und Fleisch-gewordene Traum aller VerlegerInnen sein: In ihrem Debütroman "Millie" (*1) fusioniert die junge Britin die Elemente, die spätestens seit den Erfolgen von Irvine Welsh, Michel Houellebecq, Catherine Millet und Virginie Despentes einen Verkaufs- und Aufmerksamkeitsschlager garantieren, zu einem raunchy Cocktail aus Sex, Drogen und Skandal. Dass die bei Liverpool aufgewachsene Tochter eines Briten und einer Malayin zusätzlich mit Jugend, Schönheit und einer abenteuerlichen Biografie aufwarten kann - Experimente mit Ecstasy und Rave-Clubs noch vor der ersten Periode, mit 16 Aufenthalt im Transen-Milieu von Barcelona -, ist einer massiven, glubschäugigen Rezeption sicher auch nicht abträglich.

Doch damit nicht genug der "Devianz". Die 19-jährige Protagonistin, die sich mit Vorliebe in den schäbigsten Vierteln Liverpools herumdrückt, steht auf schmutzigen Sex mit billigen Nutten. Der Roman eröffnet mit einer Szene, in der die Collegestudentin Millie, aufgeputscht durch Alk und Speed, für 50 Pfund eine minderjährige, misshandelte Prostituierte auf einem Friedhof leckt. Im Verlauf der Narration lässt Millie sich immer weiter in einen Strudel aus Geilheit, Rausch, Verachtung und Selbsthass rutschen, der am Ende in den Versuch einer bürgerlichen Katharsis mündet. Denn auch wenn die Ich-Erzählerin wie ein völlig außer Kontrolle geratener Exzess-Flummi durch die Gegend schnellt und die Beschreibung ihrer Sex-Abenteuer an grafischen, expliziten Details kaum noch zu übertreffen ist, ist "Millie" kein bewusst "amoralisches" Werk, sondern im Gegenteil eher durch die Suche nach einem kleinbürgerlichen Ruhezustand getragen.

Millie lebt bei ihrem geschiedenen Vater, einem umschwärmten Prof ihrer Uni, der ihr alle Seminare fein säuberlich in einen Stundenplan einträgt und sie offensichtlich mit genug Geld für ihre meist schon am Nachmittag startenden Sauf- und Hurentrips ausstattet. Diese werden nicht als bewusstes Gegenprogramm zum spießigen Lebensentwurf der Elterngeneration inszeniert, sondern treten eher als Desorientierung und sogar als gewisse Form der Hilflosigkeit in Erscheinung. Als den Ereignissen unmittelbar zugrunde liegender Konflikt wird die vormals so innige Freundschaft Millies mit ihrem Drogen-Kumpel Jamie gezeichnet, der sich durch die bevorstehende Hochzeit mit einer ‚Nagelstudio-Tussi’ von ihr entfernt, und, als weniger offensichtlicher, lange verdrängter Schmerzfaktor, die zerbrochene Ehe der Eltern.

Interessant ist allerdings weniger der recht konventionelle Plot aus zerrüttetem Elternhaus, Freundschaft und Coming-of-age-Grenzerfahrungen, sondern der kalte, pornographische Blick, den eine Frau hier auf andere Frauen wirft. "Millie" ist daher trotz seiner lesbischen Sexszenen kein lesbischer Roman - die Autorin selbst bezeichnet ihn als "queer" und erklärt, immer schon an "der Dekonstruktion des konventionellen, bipolaren Gender-Paradigmas" interessiert gewesen zu sein. In einer bereits viel zitierten Stelle tituliert sich die Ich-Erzählerin als "sex-crazed, genderless freak", die sich weder je als Objekt gefühlt habe noch sich mit den Männern identifiziere, die Frauen als Objekte betrachteten. Trotzdem erinnert sich Millie, dass ihr Begehren für Frauenkörper - sie hat keine Liebesbeziehungen zu Frauen und auch keine weiblichen Kumpels - durch das Betrachten von Männermagazinen geweckt und geformt wurde: "Ich sah Frauen plötzlich mit den Augen eines Pornographen. Meine Schulkameradinnen, meine Englischlehrerin und die Kassiererinnen bei Tesco wurden plötzlich Kandidatinnen für Escort, Men Only und mein Lieblingsmagazin - Club Magazine. […] Ich reduzierte Mädchen auf Körper oder dessen Teile. Ich betrachtete sie unter den Gesichtspunkten Titten, Beine und Arsch."

Bei dieser kuriosen Verschmelzung von klassischer Objektifizierung von Frauenkörpern und gleichzeitiger Beschreibung einer so noch nie gelesenen, ultra-aggressiven weiblichen "Raubtier"-Sexualität verwundert es nicht, dass der britische Journalist Colin Waters bemerkte, "Millie" gelänge das Kunststück, gleichzeitig Feministinnen und Loaded-Leser anzusprechen. "Es ist heutzutage beinahe unmöglich, über Sex aus dem Blickwinkel von Großstadt-sozialisierten Jugendlichen zu schreiben, ohne pornographisch zu werden. Allerdings muss man verstehen, dass die Linse, durch die Millie die Welt wahrnimmt, völlig von ihrem Drogengebrauch verzerrt ist und sie nüchtern die Dinge anders sieht", so Walsh. Die Motivation für die ungewöhnliche sexuelle Haltung der Romanfigur sieht die Autorin in ihrer eigenen Biografie begründet:
"Als ich selbst noch Studentin war, wollte ich die Leute dazu aufrütteln, ihre vorgefertigten Genderlabels abzuwerfen und eine fließendere sexuelle Identität anzunehmen. Mittlerweile verstehe ich, dass das homo- oder bisexuelle Coming Out ein wichtiger Teil der Identitätsfindung ist. Es wäre wohl zu naiv-idealistisch, von einer Gesellschaft zu träumen, in der Menschen gar nicht das Bedürfnis nach einem Coming out haben."

Helen Walsh: Millie. KiWi 2005. | intro märz 06


*1: "Millie." Der im März 2004 in Großbritannien erschienene Roman heißt im Original "Brass", ein Terminus für Prostituierte im so genannten "Scouse" (Liverpool-Slang). Helen Walsh (geboren 1977) schrieb ihren ersten Roman innerhalb von neun Monaten am Küchentisch ihrer Mutter in Liverpool als eine Art Selbsttherapie gegen die Depressionen, die zuvor bei ihr diagnostiziert worden waren. In die Wohnung ihrer Mutter war sie zurückgezogen, nachdem sie einige Zeit als Mitarbeiterin einer renommierten Film- und Literaturagentur in London verbracht und festgestellt hatte, wie sehr ihr ihre schmuddelige Heimat, in der sie unter anderem "Sex and Deviance Studies" an der Universität belegt hatte, fehlte. (zurück)

Die englische Originalfassung meines kompletten Interviews mit der Autorin Helen Walsh gibt es hier.

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