ESG
Das Schwestern-Kollektiv aus der Bronx behauptet nach beinahe 30-jähriger Bandgeschichte immer noch die Definitionsmacht über genau den Minimalismus, der jeden Knochen zum Tanzen bringt.
(2006.09.14, 20:55)
Bis auf die Knochen des Groove
Nur wenige Bands können für sich reklamieren, bei epochalen Musikereignissen zugegen gewesen zu sein, die Paradigmenwechsel in der Popkulturhistorie lostraten. Wie z.B. die Eröffnung der Hacienda in Manchester oder die Schließung der Paradise Garage in New York. Bei diesen beiden Demarkationspunkten im Popgeschehen live auf der Bühne gewesen zu sein, kann de facto nur eine einzige Formation von sich behaupten: die New Yorker Schwesternband ESG. 1982 traten sie mit ihrem radikal reduzierten Funk bei der Eröffnung des britischen Clubs auf, der mit Performances von New Order, Birthday Party und The Smiths und vor allem höchst eklektischen DJ-Sets wie kein anderer die Entwicklung der Wave- und später Rave-Szene vorantrieb. 1987 standen sie bei der Abschlussnacht des House- und Discotempels in New York unter der Ägide von Larry Levan, der das Ende von Disco genauso deutlich wie den Anfang elektronischer Clubkultur markierte, auf der Bühne.
Trotz dieses Legendenstatus' ist die Musik des Familienunternehmens aus der South Bronx immer ein hymnisch verehrtes AuskennerInnen-Ding geblieben, das als Geheimwissen eifersüchtig gehütet wird. Daran kann die erst wenige Jahre alte Assoziation mit dem feinschmäcklerischen
Soul Jazz Label, das Erlesenes für die Musikbibliotheken trendiger Bourgeois Bohemians herausgibt, wahrscheinlich nichts ändern. Im Gegenteil wird das just erschienene neue Studioalbum "Keep On Moving", das dritte in der fast 30-jährigen Bandgeschichte und das zweite auf Soul Jazz, wieder nur im Zirkel derer, die es eh schon wissen, mit begeisterten "Ahs" und "Ohs" herumgereicht werden. Das ist nicht nur schade, da es sich um eine herausragende Platte handelt, die in puncto Nackt- und Rohheit ihresgleichen sucht, sondern auch fast ärgerlich, wenn man realisiert, wie stark die Musikproduktionen der letzten Jahre von der Epoche der frühen 80er Jahre geprägt war, der wiederum ESG maßgeblich ihren Stempel aufdrückten.
Ende der 70er Jahre, so die gut dokumentierte Fama, sparte sich Ms. Scroggins genug Geld vom Munde ab, um ihre vier Töchter Deborah, Marie, Renee und Valerie mit einfachen Instrumenten auszustatten. Ihr Hauptanliegen war es dabei, die Mädchen in ihrem völlig desolaten Teil der Südbronx von der "Straße" fernzuhalten und damit der omnipräsenten sozialen Zerrüttung vorzubeugen. Die Teenager, die sich nach dem etwas esoterischen Konzept ihrer Geburtssteine Emerald und Sapphire und dem Wunsch, möglichst viele Platten zu verkaufen - Gold - benannten, näherten sich ihren Instrumenten autodidaktisch und mit Hilfe von Fernseh-Tutorials. Bei einigen Bandwettbewerben und Talentshows konnten sie mit ihrem an ihrer Vorliebe für James Brown geschulten Minimal-Funk aus Gitarre, Bass und Percussion reüssieren, doch der Groove kam erst richtig ins Rollen, als zufällig bei einem (nicht gewonnenen) Wettbewerb Ed Bahlman auf sie aufmerksam wurde. Der betrieb das immer unter Finanznöten agierende, dafür umso einflussreichere 99-Records-Label, das mit Veröffentlichungen von Glenn Branca, Liquid Liquid und den Bush Tetras für die Ausgestaltung des avantgardistischen New Yorker No Wave Sounds mitverantwortlich war, und führte die afroamerikanische Band in weiße Artpunk-Kreise ein.
Martin Hannet, britischer Produzent von Joy Divison und New Order, nahm mit ESG auf, die Band stand mit Gang of Four, The Clash und A Certain Ratio auf der Bühne, und in den 90er Jahren, als das öffentliche Interesse an den "Extraordinary Scroggins Girls" fast völlig zum Erliegen gekommen war, flogen einer/m beim HipHop-Hören die ESG-Samples nur so um die Ohren. Trotz dieser Vereinnahmung waren Renee, Valerie und Marie - Deborah verließ schon frühzeitig die Band - immer seltsam unangedockt in dieser Szene, in der es außer gemeinsamen Auftritten keine Netzwerke oder Verbindlichkeiten gab, die auch sie inkludiert hätten. Die für die immer am Rande des Existenzminimums agierende Band eher leidvolle Sample-Thematik - die Sirene aus einem der bekanntesten ESG-Stücke, "UFO", ist angeblich eine der meistzitierten Musiksequenzen im HipHop - adressierten die Schwestern sarkastisch mit ihrer 1992 releasten EP "Sample credits don't pay our bills". Dass sich Acts wie die Beastie Boys, der Wu Tang Clan und TLC am ESG-Buffet ohne Gegenleistung bedienten, bringt Renee Scroggins auch heute noch in Rage: "Natürlich kann man das als eine Hommage sehen - wenn man etwas dafür bekommt. Aber wenn mich jemand samplet und damit erfolgreich ist, ich währenddessen aber meine Kinder nicht ernähren kann, was soll das für eine Respektsbekundung sein?"
Die neue Platte, die mit ihrem Titel "Keep On Moving" das stoische Vorwärtsschreiten wie auch das Zirkuläre, Idiosynkratische der ESG-typischen Bewegung beschreibt, klingt exakt wie vor 25 Jahren und doch kein bisschen alt. Während die an die coolen 80er anknüpfenden Retro-Dancepunkbands wie The Rapture, Radio 4 und mit ihnen die immer noch so angesagte Kuhglocken-Funk-Fraktion vermutlich für so simple und doch genial eingängige, kraftstrotzende Basslinien töten würden, sind ESG eine der wenigen Bands, die das viel beschworene Prinzip Minimalismus konsequent durchziehen. "Keep On Moving" macht deutlich, wie viel Abstand zwischen dem paradoxerweise immer wieder Elektroniklabels wie Kompakt, Areal oder Traum mit ihren opulent elaborierten Schwelgereien zugeschriebenen Etikett und einer tatsächlichen Reduktion bis auf die Knochen des Groove liegt. Die neun neuen Tracks von ESG sind so minimal, funktional, roh und bis aufs Äußerste skelettiert, als habe man es hier mit einer Form von purer Essenz-Musik zu tun, die gerade deswegen nie alt, sondern immer direkt und unmittelbar klingt. Die Mission ist, zumindest für die Band, die fast vollständig auf Zierrat wie konventionelle Melodien oder Akkorde verzichtet, ganz klar: tanzen lassen. "Wir haben uns immer als eine Dance Band verstanden", stellt Renee Scroggings, der Kopf von ESG, in Abgrenzung zu Zuschreibungen wie "Art Funk Punk" oder ähnlichen von außen herangetragenen Labels, klar.
Dass ESG sich stets in einem sehr hermetischen, selbstreferenziellen Universum bewegt haben und gerade deswegen ihren charakteristischen, einzigartigen Sound aus ihren autodidaktischen Bemühungen destillieren konnten, hängt ohne Zweifel mit dem Umstand zusammen, dass die Band von Beginn an eine "family affair" war. Während mit Leroy Glover ein Freund der Familie als "Special Guest ESG Member" auftreten darf, der auch schon in den 80ern an ESG-Platten beteiligt war, wird die Band jetzt permanent durch die Töchtergeneration verstärkt: Renees Tochter Nicole spielt Gitarre, Valeries Tochter Chistelle bedient Bass und diverse Percussion-Instrumente. Damit funktioniert auch der Brückenschlag zwischen den Jahrzehnten, der die ESG-Produktionen paradoxerweise aber nicht durch aktuelle Einflüsse von außen verjüngt, sondern das Zeitlose erhält. "Natürlich höre ich sehr viel neue Musik aus allen Genres, aber wenn es um meine Ideen für ESG geht, versuche ich dem speziellen Spirit dieser Band treu zu bleiben", sagt Chistelle, die sich amüsiert erinnert, wie indifferent sie der Musik der "alten Ladies" zu Beginn gegenüber stand. Aber auch auf einer universelleren Ebene bemüht sich die Schwester-Töchter-Gruppe um den Brückenschlag, der verhindert, dass das vielzitierte Rad neu erfunden werden muss. Um jüngeren Musikerinnen die Chance zu geben, gehört zu werden und sich ein Publikum zu erspielen, traten sie als Zugpferde auf einigen US-amerikanischen Ladyfesten auf: "Uns ist die Idee wichtig, Frauen, die sich in irgendeiner Form künstlerisch betätigen, zu unterstützen. Unsere Fans haben uns immer unterstützt, und wenn wir im Gegenzug mit unserem Namen dazu beitragen können, dass viele Leute kommen und junge Frauen mit ihren Bands oder ihrer Kunst von einer breiteren Masse wahrgenommen werden, sind wir hoch erfreut." |
Jungle World juli 06