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Pushing things too far
 
Tolle Musik von den Elektronikerinnen Kevin Blechdom und Tujiko Noriko and the politics of the business.
(2003.08.20, 14:08)

Zwei neue Alben, zweimal der Schwenk in Richtung Pop von Elektronikerinnen, die beide für ihre weirden, originären und von Ton und Gestus doch völlig konträren Entwürfe bereits reichlich Lorbeeren rund um den Globus abernten konnten. Kevin Blechdom, auf dem Weg nach Moskau in Berlin hängengebliebene Exil-Amerikanerin, die die steife Laptop-Szene mit explizitem Humor aufmischt, hat auf Chicks on Speed ihr Solo-Debüt "Bitches Without Britches" veröffentlicht, das sie auf denglisch mit "Hoes ohne Hosen" übersetzt. Tujiko Noriko, mittlerweile in Paris ansässige und für ihre nicht schubladisierbaren Mego-Releases gefeierte Japanerin, hat mit dem japanischen Jim O'Rourke Aki Onda für das Tomlab-Label ein melancholisch fragiles Popjuwel mit dem Titel "From Tokyo To Naiagara" produziert, das nach dem großen Durchbruch riecht.

"This genre is primarily a boys' game, and those of us without a penis are in desperate need of a highly-flavored and supportive neighborhood". Yup, oft gehört, aber leider immer noch wahr, was die Macherinnen von Shejay.net, neben Pinknoises.com eines der wenigen Webzines zu Frauen in elektronischer Musik, da tongue-in-cheek-mäßig über ihre Profession sagen. Dass es so wenige (sichtbare) weibliche Elektronik-Produzentinnen gibt, ist mittlerweile schon ein Gemeinplatz, den niemand mehr so recht hören mag. Was aber nichts an der Tatsache ändert, dass Mädchen die Role Models fehlen und die Boys in ihrem Club noch immer ziemlich unter sich sind. So sind Frauen auf diesem Terrain einerseits eine neugierig und durchaus interessiert beäugte Kuriosität, andererseits wird ihnen aber allzu häufig auch der klebrige Film des Exotinnen-Status angeheftet, der Bewegung in alle Richtungen lähmt.

Warum sich nicht mehr Frauen hinter den Laptop klemmen und Tracks raushauen, darüber wird an allen Ecken und Enden gerätselt und zu keinem abschließenden Ergebnis gekommen. Gipfel der Absurdität dabei ist ja eigentlich, dass man immer jene Frauen mit Fragen zu diesem Mysterium belämmert, die es am wenigsten wissen dürften: nämlich die Künstlerinnen, die in diesem Bereich selbst aktiv sind und die vermutlich in jedem Interview gebetsmühlenhaft Antworten auf die Frage nach dem Verbleib ihrer Geschlechtsgenossinnen rausspulen dürfen. Aber andererseits: wer anders als die Frauen in the business kennt die Mechanismen und Widerstände, die andere Frauen vergraulen könnten, und wer könnte besser Vorbild und Sprachrohr sein?

Klischee, Klischee

In einer Diskussion im Internet-Forum des experimentellen Labels Lucky Kitchen vertritt die Komponistin Alejandra Salinas, frustriert davon, von vielen female visual artists, aber kaum electronic composers umgeben zu sein, die Ansicht, dass niemand sich qua Geschlecht grundsätzlich nicht für eine Sache X interessiert, sondern dass diese Passivität bzw. Berührungsangst durch tradierte Gender-Klischees erst gelernt wird: "The things that society says are for women are things that have to do with the body and expressing feeling". Also, um das mal radikal zu überspitzen, Frauen die (über Gefühle) singen, malen oder schreiben, ja bitte, vermeintlich Abstraktes wie Programmierung und Maschinenparks, lieber Finger weg. Dass diese sozial angelernte Emotionalität dann letztendlich in Werken resultiert, die immer gerne als minderqualitative, triviale und nicht verallgemeinerbare Nabelschau abgehakt werden, ist natürlich ein anderes Kapitel.

Auch Kevin Blechdom kann sich nicht vorstellen, dass irgend jemand auf so absurde Argumente wie "Frauen können/wollen sich einfach nicht auf die Technik einlassen" reinfallen könnte, da Frauen schließlich ständig "amazing things" bewerkstelligen, aber sie zerbricht sich auch relativ ergebnislos darüber den Kopf, an welcher Stelle wohl der Bruch erfolgt, der Frauen in letzter Konsequenz aus diesem Spielplatz raushält. Zunächst wollte sich Kevy B, die eigentlich Kristin Erickson heißt und in Tallahassee, Florida aufwuchs, auf diese Gender-Problematik überhaupt nicht einlassen und diesen Hafen dadurch umschiffen, dass sie und ihre damalige Herzenspartnerin in Crime, Bevin Kelley a.k.a. Blevin Blectum, mit ihren verschwommen männlichen Aliasen geschlechtsunspezifisch unterwegs waren. Da beide zum Zeitpunkt, als sie Helloween 1998 in einer feuerwerksähnlichen Schicksalsbegegnung zusammenfanden und dann zum telepathisch verbundenen, von Simon Reynolds und anderen Mediengrößen abgefeierten (Anti-)Glitch-Techno-Projekt Blectum from Blechdom wurden, elektronische Komposition am prestigereichen Mills College in Oakland, Kalifornien, das auch schon Pauline Oliveros besucht hat, studierten, war das Frau und Elektronikerin sein keine besonders große Anomalie für die beiden, sondern einfach Alltag. Erst im Nachhinein bemerkte Kevin, die sich ganz selbstverständlich als 100% feminist deklariert, dass Gender natürlich schon von Anfang an immer ein Issue war, auch wenn sie das lieber ausklammern wollte, um allein die Musik zum Primat zu machen.

Fucked Up Situation

Mittlerweile spricht Kevin, ohne resigniert zu sein, davon, dass die Situation doch ziemlich fucked up sei, was aber immerhin zu totalen Hochgefühlen führe, wenn man dann endlich mal eine andere Frau aus der gleichen Branche treffe, die man am liebsten mit einem "Good to meet you, I've been looking for YOU my whole life" begrüßen würde. Dabei war Kristins musikalisches Schaffen schon von Anfang an aktiv in Genderpolitik verwickelt, wenn z.B. in den Blectum from Blechdom-Releases mit komplett überdrehten, weirden und scheinbar hingerotzten Tracks die verkopfte Ernstheit der jungsdominierten, super reflektierten Laptopszene total verklapst wurde. In Talkin' Tech, das schon letztes Jahr auf ihrer "I Love Presets"-EP bei Tigerbeat 6, dem Label ihres Ex-Boyfriends Kid 606 (dem übrigens der höchst amüsante Liebesknaller "Mister Miguel" gewidmet ist) und auch auf "Bitches" zu hören ist, feuert sie in 47 Sekunden die Nerd-Kritik-Salven nur so ab: ""I like the algorithms when they make the funky rhythms/ But most of the time techno-logy don't rhyme! You're anti-melody malady/ You're dismal, minimal, subliminal, delirious, self-serious/ You think you know/ But you really blow."

Auch ihre Vorliebe für übersentimentale, hochemotionale Gesten und Genres wie Musicals, die gemeinhin ja als mehr oder minder trashige Frauensparte zur Seite gelegt werden, hat Kevin immer begleitet und schlägt besonders auf ihrem Debütalbum zuckersüße, hochironische Wellen, ohne dabei als billiger Lachsack missbraucht zu werden. "In meiner kleinen Stadt in Florida hatte ich keinen Zugang zu einer alternativen Musik- und Kulturszene, und so habe ich habe als Kind immer gerne "Annie" gehört und diverse Kinder-Musicals, davon bin ich definitiv beeinflusst. Ich war aber zu schüchtern, um selbst bei einem Musical mitzumachen - ich habe mich immer beworben, um dann auf der Bühne keinen Ton rauszukriegen. Es hat überhaupt sehr lange gedauert, bis ich mich getraut habe zu singen. Ich war ja früher Keyboarderin in der Band meines Bruders und seiner Frau, "Adult Rodeo", und da habe ich mich über's Background-Singen ganz langsam ans Singen rangetastet. Seit einigen Jahren bin ich total besessen von dieser überdramatischen Gesangs-Musik von Popstars wie Whitney Houston, Tina Turner, Celine Dion, und sogar Meat Loaf. Ich fand nämlich immer, dass der Computer-Musik die Emotion fehlt und dachte eben, hey, ich fühle mich emotional, wie kann ich das rüberbringen?"

Private Dancer

Daher gibt es auf dem Soloalbum, das mit seiner aberwitzigen Mischung aus dreckigen Staccato-Beats, strangen Samples, aggressiven Raps, nasty lyrics über diverse Körperfunktionen, countryeskem Banjo und herzergreifenden, Musical-reifen Gesangseinlagen ein Parforce-Ritt durch nicht existierende Genres ist, auch eine Coverversion von Tina Turners "Private Dancer", zu der sie live einen pseudo-erotischen Chair-Dance aufführt: "Dieser Tanz, den eine Freundin für mich choreografiert hat, ist völlig absurd, weil ich mich meistens eben nicht sexy fühle, nicht als show-mäßiges Sexobjekt, sondern eher wie ein freaky girl on stage, das ihren Shit macht. Das ist eine Performance-Situation, die komplett verkehrt und unangenehm ist. Ich war schon immer von unangenehmen Situationen fasziniert, dieses pushing things too far. Ich mag diese Idee von Verkehrtheit, Perversion, da das eine große Intensität herstellt, die ich in Musik immer suche. Ich selbst möchte gefordert und verstört werden in einer Show, was leider nicht allzu oft passiert. Ich hoffe, dass ich das irgendwie leisten kann." Wer Kevin Blechdom schon mal live zwischen Banjo, Computer- und Maschinenpark und Luftballons mit einem geschmetterten "I will always love you" auf den Lippen auf einen Verstärker hat springen sehen, weiß, dass sie das kann.

Zufälle in Tokio

Während Kevin schon als Kind verschiedene Instrumente studiert hat und zielstrebig auf die Musik losmarschiert ist, die sie auf der Folie ihrer akademischen Ausbildung und der US-amerikanischen feministischen Subkultur differenziert reflektieren kann, hat man bei der mittlerweile in Paris lebenden Tujiko Noriko das Gefühl, dass die Musik eher durch Zufälle in ihre Biographie gesickert ist und die Möglichkeiten einer produktiven, nach außen gestülpten Selbstrezeption – womöglich aufgrund ihres soziokulturellen Backgrounds und der Sprachbarriere – für sie viel restringierter sind.

Als sie noch als Studentin in Tokio mit ihrem damaligen Freund zusammenlebte, schnappte sie sich irgendwann dessen neu erstandenen Synthesizer und fing an, darauf im Verein mit ihrer Stimme, die sie schon immer gerne benutzt hatte, rumzuexperimentieren. 2000 erschien in Japan ihr erstes Album "Keshou To Heitai" (Makeup And Soldiers), doch die Majors, denen sie ihre Demotapes anbot, hatten entweder Vorbehalte gegen ihre Stimme oder ihre Musik, und wollten ihren Stuff nicht.

Bei einer Live-Show des experimentellen Wiener Labels Mego drückte sie Labelmacher Pita Rehberg ein Tape in die Hand, das so gut ankam, dass in den nächsten zwei Jahren zwei Alben und eine 12" auf dem österreichischen Avantgarde-Imprint veröffentlicht wurden und jetzt den Weg in das junge, sich ambitioniert um Elektronik abseits ausgetrampelter Pfade widmende Kölner Label Tomlab ebnete. Wenn man die Komplexität der sphärischen Flächen, verschleppten Beats, abwegigen Samples und der mädchenhaften bis schrillen Vocals, die von der Japanerin, die, um das hier auch noch mal zu droppen, gerne als die neue Björk gehandelt wird, subtil zu Landschaften zwischen Neochanson und Experimental-IDM ineinandergeschachtelt werden, unter die Lupe nimmt, wirkt ihre künstlerische Bescheidenheit schon fast absurd. Sie betrachte sich eigentlich weder als Composer noch als Elektronik-Künstlerin – viel eher wolle sie Schauspielerin sein und in Filmen mitspielen (im Moment läuft schon ein Projekt mit dem kongenialen Kölner Duo Graw-Böckler an). In dieser Funktion könne sie sich dann auch schon eher vorstellen, berühmt zu werden. Auch ein Teil eines ElektronikerInnen-Netzwerkes sei sie nicht wirklich, da sie nicht viele Musiker-Freunde habe und Musik am liebsten ganz alleine und ungestresst entwirft. Andere Frauen, die auf ähnlichen Baustellen arbeiten wie sie, hat sie schon getroffen, klar, aber sie steht mit keiner davon in Kontakt. Auf meine Frage, ob sie denn Role Models habe, reagiert sie mit einer Gegenfrage: was denn das sei? Wobei sich bei einer so autark arbeitenden Künstlerin, die so originäres Material hervorbringt, diese Frage vielleicht auch gar nicht stellt. Let the music speak, endlich. | Intro juli 03


Andere Frauen, die im weitesten Sinne weirde Elektronika lieben und die wir dafür lieben:

agf: ein Teil des Berliner Duos Laub und Weggefährtin von Vladislav Delay, kombiniert in ihren Soloarbeiten höchst abstrakte, bedrohlich-dronige Soundscapes mit gecutteten Vocals und HTML-Code, akt. VÖ: "Head Slash Bauch", Orthlong Musork

Blevin Blectum: die andere Hälfte des leider zerbrochenen Super-Duos Blectum from Blechdom mischt in ihren Solo-Arbeiten Dance-Elemente mit Avantgarde-Attitüde auf, akt. VÖ „Talon Slalom", Deluxe

Susanne Brokesch: Die ex-House-DJ aus Wien ist nach New York umgezogen und bastelt dort an ihren geheimnisvollen, ambientigen Collagen, die sie selbst als New Age Jazz bezeichnet, akt. VÖ "So Easy, Hard To Practice", Disko B

Mira Calix: die in Südafrika geborene und in England lebenden Knöpfchendreherin Chantal Passamonte, einzige Frau im prestigereichen Warp-Stall, verknüpft sphärisch verträumte, sehr visuelle Soundlandschaften mit zerhackten Beats und sirenenhaften Vocals, akt. VÖ „Skimskitta", Warp

Dinky: die aus Chile stammende Wahl-New Yorkerin Alejandra Iglesias bewegt sich zwischen minimal-poppigen House-Derivaten und kühler Synthie-Ästhetik, akt. VÖ "Black Cabaret", Carpark

Kuchen: Meriel Braham aus Leeds war in der 4AD-Band Pale Saints, bevor sie sich der poppig verträumten, downtempo Elektronik mit akustischen Elementen widmete, akt. VÖ „Kuchen meets Mapstaion", Karaoke Kalk

Anne Laplantine: die zurückgezogene Französin zieht nomadisch durch Europa und veröffentlicht unter verschiedenen Namen ihre Version von zerhäckselter, hoch melodiöserLo-Fi-Elektronik, akt. VÖ: "Anne Hamburg", Tomlab

Niobe: die ausgebildete Opernsängerin aus Frankfurt mit Homebase in Köln konstruiert ihre nicht kategorisierbaren, verschroben-verträumten Tracks mit Synthie, Samples und Live-Instrumenten um ihre wie ein Instrument benutzte Stimme, akt. VÖ: "Tse Tse", Sonig

Printed Circuit: Claire Broadley aus Leeds werkelt mit ihren verspielten, catchy melodischen C64-Sounds an einer girligen Nerd-History und betreibt ihr eigenes Label, akt. VÖ: "The Adventure Game", Catmobile

Sophie Rimheden: die Schwedin kaufte sich schon mit 13 ihren ersten Atari und baut auf ihrem Debüt-Album Brücken zwischen 80er Jahre Popsensibiltät, minimalen Techno und experimentelle Soundbasteleien. Akt. Vö "Hi-Fi", Mitek.

Solex: die Niederländerin Elisabeth Esselink, die in Amsterdam ihren eigenen Plattenladen betreibt, stellt ihre energetischen, fast rockigen Track-Collagen ausschließlich aus Samples her, akt. VÖ "Low Kick And Hard Bop", Matador
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