plastikmädchen
texte zu feminismus und popkultur
 
musik

buch

comic

film/tv

mädchen

alltag

wer

was


home


xml version of this page
M wie Marianne und Mehr als eine Brücke
 
Nach eher folkigen Alben und von der Hochkulturposse sehr geschätzten Ausflügen in Dreigroschenoper-Terrain, ist Marianne Faithfulls neue Platte "Kissin' Time" unten mit dem Pop von heute.
(2002.08.08, 13:36)

Dublin, Ireland. Trotz grimmigen Winterwetters in Resteuropa milde, weiche Luft, programmatisch grüne Wiesen links und rechts. Der freundliche Taxifahrer, der mich vom Flughafen in die Stadt bringt, hüllt mich in angenehmes Small-Talk-Geriesel. Was ich denn hier eigentlich mache? Aha, ein Interview, ja, viele Stars, vor allem aus England, kämen immer wieder gerne nach Dublin, weil sie hier von der Yellow Press in Ruhe gelassen würden. Atomic Kitten seien oft da, auch die Beckhams, nur bei der armen Mariah Carey mussten sie den Laden, in dem sie gerade shoppen wollte, vor drängelnden Fans verschließen. Marianne Faithfull? Die... mit Mick Jagger?? Lebt auch in Dublin, ja? Ja. Und obwohl sie ungerechtfertigerweise vielen Menschen immer noch nur in Verbindung mit ihrem mittlerweile altvaterischen Ex-Lover ein Begriff ist, ist sie mal wieder ein paar Schritte weiter. Nach eher folkigen Alben und auch von der Hochkulturposse sehr geschätzten Ausflügen in Dreigroschenoper-Terrain, ist ihre neue Platte "Kissin' Time" dank Kooperationen mit süßen Boys wie Beck, Billy Corgan, Jarvis Cocker, Damon Albarn und Etienne Daho unten mit dem Pop von heute.

Als ich später der Faithfull im nüchternen Besprechungsraum des Hotels gegenüber sitze, beeindruckt von der Kombination aus absolut lady-liker Erscheinung und raspelnd tiefer "Million-Cigarette-Voice", erzählt sie mir, dass sie an Irland die anonyme Friedlichkeit schätzt. Tatsächlich scheint aber die Wohnortwahl nicht nur eine Entscheidung für, sondern auch eine bewusste Entscheidung gegen den Ort gewesen zu sein, an dem damals alles ins Rollen und letztendlich aus den Gleisen kam. "Ich habe meine Zeit in London gehabt, und es war toll, aber nach allem, was ich dort erlebt habe, möchte ich nie wieder dort leben. Ich würde überall leben, in Paris, in Berlin, sogar Barcelona, aber nicht London. Sie haben's versaut, sie kriegen Marianne Faithfull nicht mehr!" Und lacht ihr heiseres, komplett undamenhafte Lachen.

London, Vergangenheit

Und huch, da drängt sich auch gleich penetrant die Gewissensfrage in den Vordergrund, soll man oder soll man nicht in der aufregend glamourösen, verkorksten und mystifizierten Vergangenheit der Sängerin rumstochern, sich von immer noch so wirkungsvollen wie falschen Boulevard-Versionen der gefallenen, engelhaften Klosterschülerin, die im London der 60er Jahre durch ihre Beziehung mit Mick Jagger berühmt, korrumpiert und dann der Drogensucht anheimgegeben wurde, magnetisieren lassen? Und von der irgendwie völlig lachhaften und doch großartigen Geschichte von der 67er Drogenparty auf Keith Richards' Redlands Estate, auf der sie, nur mit einem Fellteppich bekleidet (sie hatte, laut Autobiographie, "einfach keine frischen Klamotten dabei") den Chef-Stone einen Marsriegel zwischen ihren Schenkeln rausnaschen ließ ("Unsinn")? Ganz leicht ist ein distanzierter Umgang mit solchen larger than life Popmythen nicht, und Mariannes eigene, verständlicherweise ambivalente Haltung dazu, entkompliziert die Chose auch nicht. Sie spricht zwar gerne davon, dass jüngere Menschen ihre Lieder besser kapieren, weil sie nicht den ganzen, über Jahre angehäuften Mist an Gerüchten und Klischees zu ihrer Person mit sich rumschleppen, aber wer mal eine Beziehung zu dem amtlichen Rockstar gelebt hat, die als "epitome of sex, drugs, and rock & roll"-Lifestyle in die Annalen der Pophistorie eingegangen ist, tut sich wohl zwangsläufig recht schwer damit, sich in der Selbstdefinition davon abzugrenzen und die Vergangenheit völlig ruhen zu lassen.

Aber dann frage ich einfach nicht danach. Denn schließlich gibt es Interessanteres zu besprechen, jetzt und hier. Und was von damals heute noch relevant ist, ergibt sich auch so. Während ihr ehemaliger Weggefährte Mick Jagger meint, sich durch Kooperationen mit Lenny Kravitz und Bono sein Ticket in die aktuelle Musikszene zu sichern und sich ansonsten wahrscheinlich nur noch dem Golfspielen, Rosenzüchten oder whatever widmet (Marianne nach hatte er ja schon immer einen ausgeprägten Hang zum Bürgerlichen), ist Marianne weitaus experimentierfreudiger. Kissin' Time ist schließlich in Zusammenarbeit mit einer Riege erfolgreicher - "und überaus hübscher, ich muss doch zugeben, dass ihr Charme große Wirkung auf mich hatte" - Indie-Boys oder auch Alternative Mainstream Stars, as you like it, wie Beck, Jarvis Cocker, Damon Albarn und Billy Corgan entstanden, die dem Album alle ihren eigenen, distinkten Stempel aufgedrückt haben. Marianne betont, dass diese Kooperationen nicht künstlich von der Plattenfirma herbeigeführt wurden, sondern sich einfach ganz organisch ergeben hätten: "Die Songs auf Kissin' Time sind ja keine Duette, so was wie Tom Jones, der eben mal einen Song mit Alanis Morissette einsingt, sondern es sind echte Kollaborationen, Gehirnduette, ein mind-to-mind-thing, wenn man so will. Entstanden sind sie aus der Freundschaft und dem Respekt, die mich mit diesen Jungs verbinden - für mich ist es nämlich ganz wichtig, dass man zunächst Fan voneinander ist."

Hybrid und rund

So ist das Album in seiner Gesamterscheinung eklektizistisch und stilistisch facettenreich, ohne in seine Einzelteile zu zerfallen. Die Beiträge von Beck klingen soundbastlerisch weird nach Beck, die von Billy elegisch bombastisch nach Smashing Pumpkins, von Damon mystisch tender nach Blur etc., doch trotzdem funktioniert das Album als rundes Ganzes, zusammengeklammert von Mariannes Gesang und Texten. Durch das Zusammenspiel der markanten, weltmüden Stimme der Faithfull mit den originären Styles der Boys entsteht hier ein Hybrid aus zunächst völlig gegensätzlichen Elementen, das am Ende dann doch erstaunlicherweise als Song zusammenwächst. Oder eher noch als Hit. "Wenn man mit anderen Musikern kooperiert, weiß man vorher nie so genau, was man von denen bekommt. Die meisten Leute bewahren ihre Hits natürlich für sich selbst auf. Das empfinde ich als das Besondere an meinem Album, dass mir eigentlich jeder einen Hit geschrieben hat. Zum Beispiel Jarvis: hinter den Kulissen irgendeiner britischen TV-Show bin ich nach langer Zeit mal wieder in ihn hineingestolpert und habe ihm gesagt, schau, ich habe hier einen Songtitel, willst du mir damit nicht ein Lied schreiben? Ich habe ihm "Sliding Through Life On Charm" notiert, er hat sich den Zettel geschnappt und ist damit verschwunden, und irgendwann später habe ich von ihm ein mit Bleistift bekritzeltes Papier und ein Tape bekommen. Das Ergebnis hat mich völlig weggeblasen. Er hat all das über mein Leben, meine Vergangenheit, meine Karriere und meine Beziehung zur Öffentlichkeit in Worte gefasst, was ich schon lange mit mir rumtrage, was ich aber aufgrund der Vergangenheit nie in dieser Deutlichkeit sagen würde. Und ja, es klingt wie ein genuiner Pulp-Hit, und es ist doch ein Marianne-Song."

Beck war der einzige, für den Marianne aus Nervosität über seinen Ruf als kleines Genie der Popmusik im Voraus etwas vorbereitet hatte, mit den anderen ist die Zusammenarbeit ganz entspannt über verschiedenste Kanäle gelaufen. "Billy hat mich eines Tages zu Hause angerufen und gesagt, hallo, hier spricht Billy Corgan, möchtest du heute abend auf mein Konzert kommen? Ich wollte natürlich und war total begeistert. Danach hat er mir tief in die Augen gesehen und mich gefragt: Willst du mit mir arbeiten? Ich wollte, wir haben uns völlig ineinander verliebt und entstanden sind dabei die zwei Songs auf der Platte. Billy ist ein unglaublicher Perfektionist und hat mich durch seine wahnsinnige Genauigkeit dazu gebracht, dass ich besser gesungen habe als jemals zuvor."

Dave Stewart, altersmäßig als einziger etwas fortgeschrittener als die von Marianne als "Eye-Candy" betitelten Indie-Boys und somit der "odd man out" des Albums, hatte anscheinend ein serge-eskes Popliedchen vor seinem geistigen Auge, als er die Grundstrukturen seines Tracks komponiert hat. "Was er dann bekommen hat, war Song For Nico! Da ist ihm das Gesicht runtergefallen!", erinnert sich die Faithfull amüsiert, und lacht wieder ihr tiefes Raucherlachen. "Ich hatte damals gerade eine Biografie von Nico gelesen, deren Solo-Sachen ich unglaublich schätze, und dachte mir: Fuck! Was für ein unglückliches Leben! Ich habe sie nur ein Mal getroffen, als ich 17 war. Sie saß im Flugzeug hinter mir und ich habe gehört, wie sie mit ihrer tiefen, monotonen Stimme und ihrem deutschen Akzent zur Stewardess sagte: I vant a glass of champagne. Wer also, dachte ich mir jetzt, wird über Nico schreiben, wenn nicht ich?"

Sliding Through Life On Charm

Als ich nachhake, räumt Marianne ein, dass "Song for Nico" natürlich in gewisser Weise auch über ihr eigenes Leben sei, das als Kontrastprogramm ähnliche Situationen mit viel mehr Glück durchlaufen habe - Sliding Through Life On Charm eben. Sicherlich sind alle Texte, die sie schreibt, immer auch über sie, räumt sie ein, das sei ihr in den letzten Jahren bewusst geworden, als sie gemerkt hat, dass Broken English eben doch nicht nur über Ulrike Meinhof ist und ihr letztes Album Vagabond Ways auch nicht nur über die Sterilisation 15jähriger Mädchen in Schweden. Trotzdem nervt es, wenn alle Aspekte eines Textes auf die eine, persönliche, für die Öffentlichkeit scheinbar einzig reizvolle und vorstellbare Dimension reduziert werden. Ja, aber Vater und Mutter in "Like Being Born" trügen doch Züge ihrer biologischen Eltern, werfe ich vorsichtig ein, und diese gewisse Bitterkeit gegenüber ihrer Mutter, der unglücklich nach England verheirateten Großnichte von Leopold von Sacher-Masoch, die aus dem Lied spricht... "Oh, ich hoffe doch, dass ich meiner verstorbenen Mutter gegenüber keine Bitterkeit verspüre! Sie hatte eben ein hartes Leben und hat mir davon einiges als Gepäck mitgegeben. Ich glaube, es hat ihr als Katholikin das Herz gebrochen, dass ich damals vom Papst zur Hexe erklärt wurde. Die jüngeren Leute, mit denen ich jetzt arbeite und befreundet bin, finden es dagegen ja ziemlich glamourös, vom Papst denunziert worden zu sein... Fuck, ich fand das eigentlich schon immer!"

Pophistorische Kontinuität

Überhaupt betont Marianne mehrmals, wie angenehm es für sie ist, mit jüngeren Menschen rumzuhängen, nicht nur, weil die ihrer Arbeit unvoreingenommener gegenüberstehen, sondern auch, weil sie das Gefühl hat, da eine gewisse pophistorische Kontinuität herzustellen, die den jüngeren Musikern ein Idee davon geben kann, woher sie eigentlich kommen. "Als wir das Album aufgenommen haben, haben wir oft Stunden mit Bullshitting im Studio verbracht, weil die Jungs einfach total wild drauf waren, mich und meinen Manager François, der Serges bester Freund war, Geschichten aus den 60ern erzählen zu hören - und ich funktioniere da gerne als so eine Art Brücke." Als ich einwerfe, dass ich die Herstellung einer musikgeschichtlichen Tradition gerade in Bezug auf weibliche Artists wichtig finde, da das kollektive Gedächtnis hier besonders kurzlebig ist und das Rad daher immer wieder neu erfunden werden muss, ist ihr zunächst nicht ganz klar, worauf ich hinaus will. Sie erzählt mir, dass sie P.J. Harvey großartig findet und gerne mit ihr arbeiten will, ein Volume 2 von Kissin' Time nur mit Frauen aber nicht geplant ist, da das doch sexistisch sei und sich die Kooperationen dieser Platte eben einfach so ergeben hätten. Ich werde dann konkreter und frage sie, was sie von explizit feministisch-aktivistisch und eben auch geschichtsbewusst agierenden Bands wie Le Tigre oder Chicks on Speed halte. Sie zögert einen Moment und meint dann: "Naja, ich bin jetzt 55 Jahre alt, ich gehe die Dinge vielleicht ein bisschen altmodischer an. 'Nico' und 'Sliding' sind as radical as I can be." Kurze Pause. "Aber ich bin bereit zu lernen. Genau das mag ich ja an meiner Beschäftigung: dass ich immer weiter von anderen lerne und die anderen auch von mir."

Die Promoterin kommt rein und erinnert Marianne an den wichtigen Termin, den sie gleich noch hat, und ich schalte das Mikro aus. Während sie hektisch ihre Sachen zusammenpackt, schiebt Marianne Faithfull mir einen Zettel hin und meint: "Jetzt wurde es ja gerade interessant zwischen uns! Schreib doch mal ein paar von deinen Ideen hier auf den Zettel, das klang ja ganz gut." Mit flatternden Händen suche ich einen Stift und krakele nervös einige Namen und Stichwörter aufs Papier. Als ich noch die eine letzte Frage stellen will, die sich mir während des Gesprächs, beim Hören der Platte und Lesen ihrer Autobiographie immer wieder aufgedrängt hat, ist die Faithfull mit einem gemessenen, nicht zu unterbrechenden Redeschwall auch schon aus dem Hotel verschwunden. "Do you consider yourself a feminist?" Darauf bleibe ich jetzt wohl erst mal sitzen und bin gespannt. | intro märz 02
kontakt