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Chicks on Speed
 
Auf ihrem neuen Album "99 Cents" zeigen die Chicks, dass man Kapitalismuskritik und Pop hervorragend verbinden kann - und dass das auch noch wahnsinnig gut klingt.
(2003.11.24, 14:33)

"Get out there now and break the rules" (Fashion is for fashion people)

Was bekommt man heute eigentlich noch für 99 Cents? Die neue Chicks-on-Speed-Platte, die den gleichen Titel trägt, sicherlich nicht. Die ist für den regulären Preis im Laden zu haben. Aber darum geht es den drei Musikerinnen, die vor nicht allzu langer Zeit von München nach Berlin übersiedelten, auch gar nicht. Denn der Betrag von 99 Cents, mit seiner minimalen bis inexistenten Kaufkraft, ist ein rein symbolischer Wert, der eigentlich sagen soll: mach es selbst und (fast) gratis. Nicht das Kunstwerk von Jeff Koons, das sich eh niemand leisten kann, ist erstrebenswert, sondern das, was man selbst kreiert. Auch wenn "99 Cents", das dritte Album der ehemaligen Kunstudentinnen und Veranstalterinnen, eine grandiose Popplatte ist, bleiben die Chicks weiterhin ihrem Do-It-Yourself-Ethos treu, der auf Expertentum und etablierte Regeln pfeift und sich trotzdem die Mechanismen des Business zu Nutze macht.

Ausverkauf?

Soll heißen: dass Kiki Moorse, Melissa Logan und Alex Murray-Leslie jetzt via dem Label Labels einen Vertrag mit einem der fünf großen, verbleibenden Majors eingegangen sind (wie mittlerweile übrigens die meisten Indie-HeldInnen auch, z.B. LabelkollegInnen Wir sind Helden, Warner-Act Blumfeld etc.), bedeutet nicht, dass sie nicht scharfe Ansagen zu den Verknüpfungen zwischen Pop-Lifestyle und globalem Kapitalismus rausschießen können. In "Sell-out" singen sie "exploit yourself, just sell out, cash cards, just sellout / do it to yourself before it's done to you", wobei sie einerseits der Kritik am Ausverkauf ihres Popprojekts durch Betonung ihrer Entscheidungsgewalt den Wind aus den Segeln nehmen, andererseits aber auch die Selbstausbeutung der modern-kreativen Ich-AG ironisch auf den Punkt bringen. Und wenn es weiter im gleichen Track heißt "marketing isn't cool / excess isn't cool", und dann "come with me/ let's burn down the mall", spürt man deutlich den protopunkigen Aufruf zur Rebellion durch einen von ihnen geschaffenen Raum hallen, den viele allzu gerne als stylishes Dilettantinnen-Loft ehemaliger Kunststudentinnen abtun würden.

Producer-Sahnehäubchen und Elektronikerinnen-Who-Is-Who

Nichts könnte jedoch ferner von der Wahrheit als dieser Vorwurf sein, denn "99 Cent" lässt sich sowohl "oberflächlich" als lupenreines, top produziertes Elektropop-Album mit Ohrwurmcharakter konsumieren wie auch für seine kritischen Aussagen goutieren. Ein besonderes Steckenpferd der Chicks on Speed war ja schon immer das Networking und das Bündeln von kreativen Ideen, weswegen sie für ihre Platten stets aus den interessantesten Musikmenschen das Beste herausgekitzelt haben. Das ist dieses Mal natürlich wieder der Fall, denn mit Gerhard Potuznik, Ramon Bauer, Mika Vainio, Thies Mynther und Tobi Neumann haben sie wieder das Sahnehäubchen der Producer-Szene gewinnen können. Aber auch viele Kolleginnen sind dieses Mal mit dabei, die im mörderisch guten "Wordy Rapping Hood", einem Tom-Tom-Club-Cover, gemeinsam rappen, singen, blöken und quietschen. Die Credits zu dieser Nummer, die einem nach dem ersten ungläubigen Hören gar nicht mehr aus den Gehörgängen gehen will, lesen sich wie das Who Is Who of Cool Female Electronics: Miss Kittin, Le Tigre, Inga Humpe, Kevin Blechdom, Soffy O, Acid Maria, Nicola Kuperus (von adult.), Jill Mingo und Tom-Tom-Club- Mitglied Tina Weymouth.

Vielfalt ohne Etikett

Mit den wunderschön melancholischen Stücken "Love Life" und "Coventry" sind, neben all der mitreißenden Agitation, auch ganz zarte, persönliche Momente auf der Platte zu finden, und "We Don't Play Guitars" mit Queen Peaches ist natürlich eine brillant-lustige Kampfansage an all jene, die glauben, dass "gute" Musik nur aus authentisch erackertem Rockerschweiß geboren wird. Bei der gebotenen musikalischen Vielfalt passt es gut, dass die Chicks mittlerweile nicht mehr unter dem zwischenzeitlich überalterten Label "Electroclash" rezipiert werden, sondern gewisse Teile der Medien offensichtlich davon ausgehen, dass die amerikanisch-australisch-deutsche Kombo "Postpunk" macht. Uns soll es recht sein, solange sie weiterhin so großartige Platten veröffentlichen - unter welchem Etikett auch immer. | fm4 okt 03
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