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Jessica, 30.
 
Alle sollen so sein, wie die ideale Leserin: 30, attraktiv, unabhängig und gut verdienend. Im Clinch mit den Supertussen in Marlene Streeruwitz' neuem Roman.
(2004.06.04, 16:11)

Jessica, 30, joggt morgens bei klirrender Kälte durch den Wiener Prater. Beim Termin mit der Verlegerin einer Frauenzeitschrift muss sie fit sein. Klar müssen die Augen sein, entwässert das Gesicht, wenn sie der Chefin der "Tussenriege" irgendeine Sex-Reportage vorschlagen wird, um nicht dauernd vom Vater Geld erbetteln zu müssen. Beim eiskalten Dauerlauf denkt Jessica an die Packung Maple-Walnut-Eis, die sie am Vorabend gierig in sich reingeschlungen hat, an die zu bekämpfenden Fettwolken an ihren Oberschenkeln, und an den verheirateten ÖVP-Politiker, der seine Familie nicht für sie verlassen wird und den sie eigentlich gar nicht will. Jessica hört gar nicht mehr auf, Gedankensalven durch ihren Kopf zu feuern, und während sie ihren widerstrebenden Körper zum Cosmo-geeichten Gerenne zwingt, überschlägt sich ihr Kopf im Gehirnjoggings-Zickzack zu allen gesamtgesellschaftlichen Issues und zurück.

In ihrem fünften Roman schlüpft die in Wien lebende Marlene Streeruwitz, die zuerst als Dramatikerin donnernden Applaus einfuhr und mittlerweile als eine der wichtigsten deutschsprachigen AutorInnen gilt, hinter die Stirn einer typischen Neoliberalismus-Verliererin, die das hohle Geschwätz von Elitenbildung und Top-Qualifikationen der Lächerlichkeit Preis gibt. Romanheldin Jessica Somner, die in Graz aufwuchs und in Wien lebt, hat alles richtig gemacht: Sie hat das richtige Studium, sie hat ein Doktorat, sie hat Praktika und Volontariat, sie hat Auslandsaufenthalte in New York, London und Berlin, sie hat Kontakte, sie ist schick gestylt und jung und attraktiv und verzichtbereit.

Trotzdem kann sie als Journalistin nirgendwo landen, muss sich jeden Auftrag erkämpfen und sich dabei streckenweise solche inhaltlichen Kompromisse abpressen, dass sie zwischen Gelächter und Erbrechen schwankt. In einem nie abreißenden, atemlos gedrängten und doch messerscharf reflektierten Stream of Consciousness, der durch das fast gänzliche Fehlen von Punkten im Text unterstrichen wird, lässt Marlene Streeruwitz ihre Protagonistin gleichzeitig ihr unmittelbares Tun wie die beeindruckende Fülle ihrer Überlegungen zu sozialen Issues und ihrer eigenen Arschkarten-Situation spiegeln.

Wie in ihren anderen Werken wie "Lisa's Liebe", "Verführungen" oder "Nachwelt" hantiert Streeruwitz hier mit der für sie so charakteristischen literarischen Technik, die in dem ihr gewidmeten, im Oktober 2004 erscheinenden Text+Kritik-Band passend als "Trivialität als Kunstform" umrissen wird. Scheinbar alltägliche, umgangssprachliche Sprechakte und Gedankengänge werden in einer oft polemischen Direktheit so verdichtet und zugespitzt, dass eine imposante, aber stets nachvollziehbare Kunstsprache entsteht.

So denkt sich Jessica über die Verlegerin der Frauenzeitschrift, der sie sich immer wieder angeekelt und doch voller Hoffnung auf zumindest semi-progressive Inhalte anbietet und die unschwer als Woman-Chefin zu entschlüsseln ist: "ich glaube, es ist ihr sehr wichtig, dass die ganze Redaktion so aussieht, wie sie, sie möchte eine richtige Tussenriege und alle sollen so sein, wie die ideale Leserin, 30, attraktiv, unabhängig und gut verdienend, aber dann müsste sie auch etwas zahlen, aber sie findet ja immer genug Mäuschen, die schon vom Mitmachen zufrieden sind, und für das Magazin, da soll keine Redakteurin gescheiter sein als die Leserinnen, und der kleinste gemeinsame Nenner ist da ohnehin nur die Vuitton-Tasche und wie die anderen das machen, das würde ich sehr gerne wissen, zahlt denen auch allen der Papa noch etwas zur Miete".

Mit der Kritik an diesem letztlich regressiven Sex & The City-Supertussentum, das immer noch rechtzeitig bei der Halbaufgeklärtheit stehen bleibt, hält die Autorin auch im Interview nicht hinter dem Berg: "Natürlich könnte eine Frauenzeitung anders sein. Und genau die Regression von Woman gegenüber Brigitte ist in meinem Buch auch beschrieben. Zeitschriften wie Woman verlangen doch endgültig die Selbstzurichtung der Frau zur Hure und Heiligen in einem." Auch der auf ewig verzögerte reale Berufseinstieg junger Menschen und da besonders wieder der Frauen im Medienbusiness durch die Praxis des Praktikumsmarathons empört die Schriftstellerin, die sich derzeit in Wien für die Gründung zweier Linksparteien und einer neuen linken Monatszeitung stark macht: "Ich sehe das Problem des 'Gesellschaftseinstiegs' für junge Frauen rund um mich und halte es für eine neuerliche strukturelle Hürde. Besonders empörend finde ich, dass die Frage der Wahl eines Lebensentwurfs durch diese Dauervolontariate total ad absurdum geführt wird."

Und während Jessica gegen die Schlaffheit und das Aufgeben anjoggt, fällt ihr eine deprimierende Perspektive nach der anderen ein: "bei der Vogue in New York gibt es überhaupt nur mehr 3 Redakteurinnen, alles andere machen diese noch jüngeren Frauen, frisch von der Uni und hoffnungsfroh, und wenn sie das dann nicht mehr sind, dann kommen die Nächsten, und sogar die Sarah hat sich nicht gehalten und das als Tochter vom Dennis Hopper". Als ihr einige Wochen später ihr Gelegenheits-Polit-Lover Gerhard gegen ihren Willen in den Mund ejakuliert, während er mit seiner Frau telefoniert, wacht die "feministische Schläferin" auf und macht sich daran, einen politischen Skandal erster Ordnung aufzudecken. Der weist mit seiner ungustiösen Verstrickung in Prostitution und Menschenhandel deutliche Parallelen zu den Causae Friedman und Immendorff auf und bringt die Journalistin bis zum Stern. Ob das die goldene Option für Jessica ist? Wahrscheinlich nicht. Aber es bleibt: eine Selbstermächtigung.

Marlene Streeruwitz: Jessica, 30. S. Fischer 2004 | intro juni 04

Das ganze Interview mit Marlene Streeruwitz ist hier zu finden.
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