Sie werden uns nicht kriegen
Bislang habe ich mich konsequent geweigert, über das russische Girl-Pop-Duo t.A.T.u. zu schreiben - zu vermint war mir das Feld. Doch beim nochmaligen Hinhören...
(2003.04.02, 14:33)
Zu vermint war mir bislang das Feld aus kalkulierter Provokation, kühlen Marketing-Strategien, Schulmädchen-Appeal und offensiver, vermutlich gefaketer Lesbischkeit, die nichtsdestotrotz weltweit die Gemüter erregt und sogar zu einem "Video-Ban" in Großbritannien führte. Hier soll auch gar nicht darüber geredet werden, dass das Tabu der Darstellung lesbischer, minderjähriger Liebe genauso absurd ist, wie es widerlich ist, dass sich gleichzeitig aus voyeuristischer Porno-Perspektive dran aufgegeilt wird, denn darüber haben sich schon die verschiedensten Instanzen unter diversesten Deckmäntelchen erhitzt.
Ich habe mir hingegen einfach die von Trevor Horn produzierte Platte, der ja schon in den 80ern Producer von kontroversiellen Charts-Acts wie Frankie Goes To Hollywood war, nochmals intensiver angehört und mit einem Mal war da was. Eine ganz andere Perspektive faltete sich vorsichtig vor mir auf, die sich schon vorher langsam durch den Bauch, auf emotionalen Schlingwegen, reingeschlichen hatte. Denn bei diversen Hörerlebnissen in der Schlange im Supermarkt oder in der Umkleidekabine im Kleiderladen, die die immensen Hitparadenerfolge so mit sich bringen, stieg da auf einmal so eine gewisse Rührung, eine romantische Bewegtheit in mir hoch, die alles Überflüssige wie den eurotrashigen Bombast-Sound, die eher dünnen Stimmen der jungen Lena und Yulia, das merkwürdig klingende Englisch der beiden und das widerliche Marketing-Spektakel einfach abstreifte.
Auch wenn das Projekt angeblich von einem gewieften und unempfindlichen Kinderpsychologen erdacht wurde, der Erkenntnisse über pädophile Männergelüste in bare Münze umsetzen wollte, wie es die Fama um die Entstehung von t.A.T.u. will, so wirkt die Gruppe doch daneben noch auf einer ganz anderen Ebene, die vermutlich gar nicht angepeilt war. Denn das Modell der romantischen Beziehung zwischen Lena und Yulia, die in ihren Songtexten und Videos ja immer wieder das rebellisch-schwärmerische "Wir gegen den Rest der Welt"-Sujet bemühen, ist eigentlich eine hymnische Zelebration von Mädchenfreundschaften. Gerade im Teenager-Alter ist für die meisten Mädchen die Beziehung zur besten Freundin so intensiv, dass sie nicht selten romantische Züge trägt, was ja im popkulturellen Universum der rauhbeinigen, wichsenden und (keine) Mädchen abbekommenden Jungs, die dann und später das Terrain dominieren, immer noch zu wenig thematisiert wird. Gerade wenn man bedenkt, dass das Selbstbewusstsein unzähligen Studien (und eigenen Beobachtungen) zufolge bei jungen Mädchen im Teenie-Alter drastisch in den Keller geht, ist dieses Abfeiern der auf sich selbst gerichteten Mädchenfreundschaften so wichtig.
Und wie erfrischend ist es, t.A.T.u. mit emphatischem, irgendwie doch total geilem Gefühlsbombast über eine Sehnsucht singen zu hören, die nichts Männliches als errettende, überhöhte Projektionsfläche braucht, sondern nur davon träumt, mit der besten Freundin und Liebsten, ganz adoleszent-verweigernd, aus dieser "verständnislosen" Welt der Erwachsenen zu fliehen. Und da ist es auch ganz egal, dass diese Musik um die verfeinerten Indie-Nerd-Kriterien, die man sonst so naserümpfend als ersten Maßstab anlegt, einen ganz weiten Bogen macht. Das fährt, neben all den Widersprüchlichkeiten eines generalstabsmäßig durchgezogenen kommerziellen Projekts, mit voller Pulle in die Eingeweide. Und ich werde dann selbst nur noch zu einem Batzen geil kitschigen Gefühls und wünsche mir, "Not Gonna Get Us" 15-jährig mit meiner damals allerbesten Freundin händchenhaltend in der schlechtesten Disco der ganzen Adriaküste zu hören.